Allgemeine Informationen

zur linearen Algebra und zum Vorlesungsbetrieb

Prof. Siegfried Bosch

Was versteht man unter Linearer Algebra?

Geometrische Fragestellungen in der Ebene oder im drei-dimensionalen Raum kann man mit verschiedenen Methoden behandeln. Am naheliegendsten ist es, geometrische Konstruktionen zu verwenden, z. B. mit Hilfe von Zirkel und Lineal. Man kann aber auch versuchen, solche Fragestellungen in rechnerische Probleme umzusetzen und diese durch „Ausrechnen“ zu lösen. Dies ist das Vorgehen der analytischen Geometrie, die von René Descartes (1596-1650) begründet wurde. Die rechnerischen Methoden der analytischen Geometrie wiederum werden heute in erweiterter Form zur Theorie der Linearen Algebra zusammengefasst, die inzwischen mit ihren abstrakten Begriffsbildungen als ein zentrales Fundament für weite Teile der modernen Mathematik dient.

Demgemäß handelt es sich bei der Vorlesung über Lineare Algebra (bzw. der Vorlesung Höhere Mathematik mit entsprechendem integrierten Anteil Linearer Algebra) um eine der grundlegenden Vorlesungen für Studierende mit Studienziel Diplom- oder Staatsexamen in Mathematik.

Neben der Vermittlung des geometrischen Hintergrunds wird in der Vorlesung besonderer Wert darauf gelegt, die eigenständigen Prinzipien der Linearen Algebra herauszuarbeiten, so wie sie auch in späteren Anwendungen benötigt werden. Im ersten Semester werden wir folgende Themen behandeln: Mengen und Abbildungen, Gruppen, Körper, Vektorräume, linear unabhängige Systeme von Vektoren, Basen, Dimension, direkte Summen, lineare Abbildungen und Matrizen, Quotientenvektorräume, Dualräume, lineare Gleichungssysteme, Gaußsches Eliminationsverfahren, Determinanten, Cramersche Regel, äußere Produkte.

Was ist eine Vorlesung?

Anfänglich wurde in einer Vorlesung tatsächlich vorgelesen, im wahrsten Sinne des Wortes, da Bücher für die Allgemeinheit nur in sehr begrenztem Maße zugänglich waren, oder auch, weil man auf diese Weise leicht regeln konnte, welche Erkenntnisse zur Verbreitung zugelassen waren. Heute haben sich die Umstände glücklicherweise grundlegend geändert: Bücher und Informationen jeglicher Art sind im Überfluss vorhanden, und alle Studierenden sollten versuchen, maximal davon zu profitieren.

Im Prinzip könnte ein Student, der die Techniken der Linearen Algebra erlernen möchte, ein einführendes Buch zur Linearen Algebra (oder ein entsprechendes Skript aus dem Internet) auswählen und dieses von Anfang bis Ende durcharbeiten. Er müsste also den Text nach und nach durchlesen und sich dabei permanent darum bemühen, die vom Autor beschriebenen Überlegungen und Schlussfolgerungen gedanklich nachzuvollziehen. Ein solches Selbststudium ist durchaus vorstellbar, erfordert aber ein hohes Maß an Disziplin und beinhaltet darüberhinaus weitere gravierende Probleme. Diese sind überwiegend dadurch verursacht, dass der Autor eines Textes, nachdem er die darzustellende Materie in eine starre Form gegossen hat, nicht mehr (oder nur noch sehr begrenzt) als flexibler Kommunikationspartner zur Verfügung stehen kann. Mit anderen Worten, spontane Verständnisfragen zum Text sind nicht möglich, was dazu führt, dass man pro Tag oder sogar pro Woche trotz hohen Arbeitseinsatzes oft nur wenige Seiten schafft, bzw. an manchen Stellen vollständig in einem Morast unverstandener Ausführungen steckenbleibt. Dabei wären oftmals nur kleine, aber gezielte Hinweise erforderlich, um Missverständnisse aufzulösen bzw. dem Leser über Problemstellen hinwegzuhelfen.

Effektiver ist es allemal, einer Vorlesung heutigen Stils zu folgen. Eine Einführungs-Vorlesung über Lineare Algebra orientiert sich in der Vorgehensweise zwar meist auch an einem entsprechenden Lehrbuch oder Skriptum. Im vorliegenden Fall werde ich mein Springer-Lehrbuch zur Linearen Algebra verwenden. Im Gegensatz zur wörtlichen Wiedergabe eines fest vorgegebenen Textes verfügt der Dozent einer Vorlesungs-Veranstaltung jedoch über ein weites Feld an Gestaltungsmöglichkeiten. Er kann z. B. individuelle Schwerpunkte setzen und Dinge, die erst auf den zweiten Blick wichtig werden, zunächst in den Hintergrund treten lassen. Auch kann er vielfältig Motivationen geben, auch solche, die bei einer erstmaligen Erklärung eines Sachverhalts sehr hilfreich sein können, in einem Buch aber einen etwas weiter fortgeschrittenen Leser langweilen oder sogar vom eigentlichen Thema ablenken würden. Eines aber hat der Besuch einer Vorlesung mit dem Selbststudium gemeinsam: Auch wenn man gerne im Team arbeitet, so muss sich doch jeder Student selbst darum bemühen, den dargebotenen Stoff zu verstehen und die vorgetragenen Schlussfolgerungen nachzuvollziehen. In einer ersten Phase beginnt man hiermit sozusagen in Echtzeit während der Vorlesungsstunden. Wenn man dabei eine Unstimmigkeit entdeckt (auch der Dozent kann sich einmal irren!), eine Verständnisfrage hat oder ganz allgemein den Eindruck gewinnt, dass eine gewisse Argumentationskette nochmals genauer erläutert werden sollte, so möchte ich Sie ausdrücklich auffordern, dies spontan während der Vorlesung zu äußern. Soweit möglich werde ich direkt auf Ihre Fragen eingehen oder Sie notfalls auf eine Klärung in der Vorlesungspause oder zu einem anderen Termin verweisen. In der Pause (oder Sprechstunde) haben Sie zudem die Möglichkeit, speziellere Fragen zu stellen (warum schlägt man genau diesen Weg ein, warum ist dies und das kein Gegenbeispiel usw.), die sich nicht spontan ergeben haben oder frühere Vorlesungsstunden betreffen.

Dabei bieten mathematische Vorlesungen eine ganz spezielle Besonderheit: Im Normalfall wird der Dozent das, was er vorträgt, in Kurzform an der Tafel (oder mittels eines anderen Mediums) festhalten. Dies geschieht in der Absicht, insgesamt die Übersicht zu erleichtern und die vielfältigen Details, die in einer mathematischen Vorlesung behandelt werden, für einen gewissen Zeitraum optisch präsent zu halten. Ich empfehle, die Tafelnotizen sämtlich mitzuschreiben und den Vorlesungsstoff anhand dieser Notizen zu Hause sozusagen in einer zweiten Phase nochmals nachzuvollziehen, zu durchdenken und zu verinnerlichen, so dass er möglichst in den folgenden Vorlesungsstunden noch präsent ist. Bei Bedarf sollte man dabei zusätzlich das zugrundegelegte Textbuch (oder weitere Literatur zur Linearen Algebra) konsultieren.

Warum wird die Vorlesung von Übungen begleitet?

Würde man sich beim Hören einer Vorlesung darauf beschränken, den Vortrag des Dozenten nur zu verinnerlichen, so käme dies einer gewissen Form des Memorierens gleich. Es wäre wie in der Fahrschule: Man würde beispielsweise die Regel „Rechts vor Links“ kennen, die greift, wenn die Vorfahrt nicht auf andere Weise, etwa durch Verkehrsschilder, geregelt ist. Wenn man aber erstmalig selbst ein Auto steuert, wird man mit dem Problem konfrontiert, die erworbenen theoretischen Kenntnisse mit den praktischen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. An jeder Straßeneinmündung muss man als Fahrer blitzschnell die aktuelle Situation analysieren, um herauszufinden, welche der theoretischen Regeln anzuwenden ist.

In der Mathematik ist es ähnlich. Hier geht es um das Lösen mathematischer Probleme, die aus möglichen praktischen Anwendungen resultieren oder auch aus Fragestellungen innerhalb der Mathematik. Um zu einer Lösung zu gelangen, ist das Problem zunächst genauestens zu analysieren. Man trennt Wesentliches von Unwesentlichem, um sozusagen die Grundstrukturen des Problems offenzulegen. Dabei ist gleichzeitig zu überprüfen, ob es bereits fertige mathematische Theorien gibt, die auf diese Grundstrukturen Bezug nehmen und somit im vorliegenden Fall anwendbar sind. Falls dies nicht zum gewünschten Erfolg führt -- und hier endet die Analogie zum obigen Beipsiel aus der Fahrschule --, so bleibt nichts anderes übrig, als die ausgetretenen Pfade zu verlassen und in eigener Weise kreativ zu werden. Man versucht, eine Lösungsstrategie zu entwerfen, also einen vermutlichen Lösungsweg, dessen Gestalt durch persönliche Erfahrung und Eingebung wie auch durch die Kenntnis verschiedenster bereits entwickelter mathematischer Theorien geprägt ist. In einer zweiten Phase sind dann die einzelnen Etappen dieses Weges im Sinne streng mathematischer Schlussfolgerungen zu etablieren. Nicht immer führt dies in einem überschaubaren Zeitraum zum Erfolg. Es gibt berühmte mathematische Probleme, die Jahrhunderte auf ihre Lösung warten mussten, darunter auch solche, die bis heute ungelöst sind, wie etwa das folgende einfach zu formulierende Problem der Zahlentheorie:

Gibt es unendlich viele Primzahlzwillinge, also Primzahlpaare p, q mit q - p = 2?

Das Lösen mathematischer Probleme läßt sich nur im Rahmen eines praktischen Trainings erlernen, wobei ein guter theoretischer Hintergrund als unverzichtbare Voraussetzung dient. Die Übungen zur Linearen Algebra stellen ein solches Training dar, und zwar speziell abgestimmt auf den Problembereich, der in der Vorlesung aus theoretischer Sicht behandelt wird. Wöchentlich geben wir ein sogenanntes Übungsblatt mit 5 Aufgaben (Problemen) heraus, welches innerhalb einer Woche schriftlich zu bearbeiten ist. Die Lösungen werden von Hilfsassistenten korrigiert und in den anschließend stattfindenden Übungsgruppen unter den Teilnehmern diskutiert. Natürlich dienen die Übungen auch zur Illustration der Vorlesung. Indem wir verschiedene Beispiele zur allgemeinen Theorie betrachten, entsteht ein gewisses „abstraktes“ Vorstellungsvermögen für eine detailreiche Theorie, die ansonsten nicht so einfach zu überschauen wäre.

Wie bearbeitet man ein Übungsblatt?

Man kann normalerweise nicht erwarten, dass sich ein Übungsblatt innerhalb von ein bis zwei Stunden vollständig bearbeiten lässt. Dies liegt daran, dass die gestellten Aufgaben in der Regel keine Routineanwendungen (z. B. Rechenaufgaben) zu entsprechenden Verfahren darstellen, die bekannt sind bzw. in der Vorlesung vorgestellt wurden. Insofern unterscheiden sich die Übungsaufgaben gravierend von den aus der Schule bekannten Hausaufgaben. Man sollte sich aber auch von der Vorstellung trennen, dass es sinnvoll wäre, die Aufgaben an einem Tage in zusammenhängender Weise abzuarbeiten. Viel effektiver ist es, wenn man sich bereits unmittelbar nach Erscheinen des Übungsblattes mit der Aufgabenstellung genauer auseinandersetzt, um die Struktur der jeweiligen Fragestellung zu analysieren. Man sollte auch schon beginnen, Lösungsstrategien zu entwerfen und versuchen, diese zu realisieren. In der Regel wird man jedoch ziemlich schnell auf Hindernisse stoßen, die sich scheinbar nicht überwinden lassen. Man sollte sich dann nicht „verrennen“. In einer ersten Phase genügt es, wenn man die vorgefundenen Hindernisse so explizit wie möglich beschreibt bzw. analysiert und ansonsten die Dinge erst einmal beiseite legt. Nach einer gewissen Zeit sollte man erneut einen Anlauf starten. Dabei sieht man die Problematik meist mit neuen Augen und hat dadurch alle Chancen, nunmehr einen gangbaren Weg zu finden. Man sollte also die Bearbeitung des Übungsblattes sozusagen als Intervalltraining ansehen und dafür gewisse zeitlich begrenzte Phasen vorsehen, wobei keine Zeit nach Ausgabe des Blattes verschenkt werden sollte. Zwischenzeitlich können auch Diskussionen mit Kommilitonen über die vorgefundenen Hindernisse hilfreich sein. Wenn Ihnen jemand jedoch die komplette Lösung erzählt oder gar eine Vorlage zum Abschreiben bietet, so ist der beabsichtigte Trainingseffekt natürlich in keinster Weise gegeben.

Weitere nützliche Tipps zum Bearbeiten der Übungsblätter können Sie den Ausführungen von Prof. Dr. M. Lehn, Mainz, entnehmen.

[zurück zur home page der Vorlesung] [an den Anfang der Seite]

Tilman Bauer, 28. August 2006